Die imperiale Sichtweise - nachhaltige Hilfe leisten
Ilija Trojanow über Entwicklungshilfe

Der Autor Ilija Trojanow sprach in seinem gestrigen Vortrag vor Studenten im Rahmen einer Vorlesung der Politikwissenschaft an der Universität Wien über globale Ungerechtigkeit und verschiedene Ansätze, eine gerechtere Welt schaffen zu wollen. Die Einsicht in diese Ungerechtigkeit der vorherrschenden Verhältnisse ist dagegen weiter verbreitet, als die Bereitschaft, etwas dagegen zu unternehmen. Auf der einen Seite stehen die Vielen, deren Leben keinen anderen Horizont kennt als den täglichen Überlebenskampf, auf der anderen Seite die wenigen Privilegierten, deren Denken und Handeln von Profitmaximierung gelenkt ist. Trojanow hat viele Länder bereist, mit vielen Menschen gesprochen und stellt nun verschiedene Wege und Initiativen vor, wie dieser Ungerechtigkeit begegnet wird, welche Wege erfolgreicher sind und welche Ansätze problematisch sind.
Trojanow gibt verschiedene Beispiele. Er beginnt mit den Aktivisten der Robin Hood Army in Karachi, Pakistan, die übriggebliebenes Essen von Buffets an die Armen der Stadt verteilen. Danach kommt er auf die Arbeiter einer Textilfabrik, wiederum in Pakistan, zu sprechen, die die Ansicht vertreten: Schlimmer als ausgebeutet zu werden, ist es, gar nicht ausgebeutet zu werden. Sodann schließt er mit dem Vergleich von zwei Projekten des Roten Kreuzes, von denen das erste Projekt, bei dem Körpergliedprothesen ausgegeben wurden, als erfolgreich eingestuft wurde, während ein zweites Projekt, bei dem kostenlose Bücher an SchülerInnen verteilt wurden, als nicht erfolgreich angesehen wurde.
Alle drei Beispiele zeigen eine Problematik auf, die sich bei genauerem Hinsehen als symptomatisch für die Postmoderne erweist. Beim ersten Beispiel drängt sich die Frage auf, warum die Aktivisten statt einem einheimischen Helden, eine westliche Figur gewählt haben und sie dann neoliberal adaptiert haben, indem der kleinstmögliche Kompromiss eingegangen wird. Oder hätte sich Robin Hood jemals mit übriggelassenen Speisen begnügt? Das zweite Beispiel von den Textilarbeitern zeigt einen vollkommenen Utopieverlust der Ausgebeuteten. Eine Entsprechung findet sich im Parteiprogramm der europäischen Linken, die schon gar keine Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem mehr anbieten. Das dritte Beispiel zeigt die problematische Anwendung von rationalistischen Kriterien wie Evaluation und dem Glauben an die prinzipielle Messbarkeit aller Dinge auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Wenn Hilfe als „effektiver Altruismus“ bezeichnet wird, werden betriebswirtschaftliche Maßstäbe auf humanitäre Angelegenheiten angewandt und durch eine entsprechende Sprache gekennzeichnet. In der humanitären Hilfe fallen dann jene Projekte unter den Tisch und werden zusammengekürzt, deren Effekte sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen und deren Erfolg in keiner Grafik dargestellt werden kann, wie es mit dem Projekt passiert ist, das Bücher an SchülerInnen verteilt hat. Was diese Bücher in den Köpfen der SchülerInnen verändern, lässt sich jedoch nicht durch eine Evaluation ermessen.
Was allen Beispielen gemeinsam ist, ist eine gewisse Eindimensionalität , mit der Begriffe wie Rationalität oder Nachhaltigkeit angewendet werden. Ein Handeln nach diesen eindimensionalen Leitlinien entspricht etwa dem des Grafen, der sein Geldbörsel hinter der Oper verloren hat, es aber vor der Oper sucht, weil es dort heller ist. Die europäische Politik kennt diese Handlungsweise sehr genau, man denke nur an die Bologna Reform, die Wissen als Produkt darstellen will oder die Einführung von Bio-sprit, um dessentwillen ganze Urwälder abgeholzt werden.
Was fehlt ist eine Verdoppelung der Begriffe. „Seid auf vernünftige Weise vernünftig!“, könnte man den Planern der Organisationen zurufen, oder: „Seid auf nachhaltige Weise nachhaltig!“, den Politikern und Entwicklungshelfern.

Ein zentrales Anliegen Trojanows ist es zu zeigen, dass Realität nicht eindimensional ist sondern vielschichtig und dass jeder Mensch eine andere Wahrnehmung hat. Dabei kann Wahrnehmung auch geschärft werden und je tiefer man in eine Realität eintaucht, desto mehr nimmt man auch wahr. Dieser Fakt kann in diesem Zusammenhang problematisch werden, wenn sich herausstellt, dass EntwicklungshelferInnen, die aus westlichen Staaten kommen und die besten Absichten haben, vor Ort zu helfen, oft eine eingeschränkte Wahrnehmung haben. Die Vielschichtigkeit von Strukturen und die Schattierungen von Realitäten können daher am besten von Menschen erkannt werden, die mit den Zusammenhängen am vertrautesten sind und das sind im Falle der Entwicklungshilfe die Menschen, die das Objekt dieser Hilfe sind. Trojanow plädiert daher auf Hilfe zur Selbsthilfe. „Gib einem Armen einen Fisch und er wird einen Tag lang satt sein. Zeige ihm, wie man fischt und er wird sich selbst ernähren können“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Die Armen, denen geholfen wird, sollen an dieser Hilfe beteiligt werden, sollen Subjekt werden, statt nur Empfänger von oft nicht nachhaltigen Wohltaten.

Was passiert aber, wenn wir aus den reichen Ländern des Westens aus der sicheren Distanz auf die Armen schauen? Trojanow konstatiert eine imperiale Sehensweise. Auch nach Kolonialismus und Postkolonialismus findet sich überall imperiales Gedankengut, was sich dann in Stereotypen äußert. Ein Beispiel davon ist die Rede von den „faulen Griechen“. Solche Redensweisen legitimieren globale Ungerechtigkeit. Dem kann nur begegnet werden mit dem Einfangen von verschiedenen Stimmen, von unterschiedlichen Erzählweisen, die deutlich machen sollen, wieviele verschiedene Sichtweisen auf ein klar erscheinendes Faktum es geben kann. Dies ist die Arbeit, die sich Trojanow vorgenommen hat.

Was aber passiert, wenn der Blick gar nicht so weit reicht? Trotz der technischen Allverfügbarkeit von Bildern und Informationen, sind erstaunlich viele Menschen nicht über die Zusammenhänge globaler Krisen informiert. Hier zeigt sich exemplarisch der schwierige Umgang mit dem Leiden. Menschen neigen dazu wegzuschauen oder nicht hinzuschauen, wenn Ungerechtigkeit und Leid zum Vorschein kommen. Das zeigt sich auch in unserem Alltag. Dass Leichenwägen aus den modernen Großstädten verschwunden sind und durch neutrale Lieferwägen ersetzt wurden, zeigt, dass Menschen nicht mehr mit dem Tod konfrontiert werden wollen. „Ich kann da gar nicht hinschauen“, sagt eine Bekannte, wenn das Leid der Armen und Kranken in Gestalt eines Krüppels auf der Straße sichtbar wird. Solche Konfrontation mit Leid stellt unseren Umgang mit unserer Empathie auf die Probe. Dabei sind die meisten Menschen zwar sehr empathisch, neigen aber zu den Extremen von Gleichgültigkeit auf der einen Seite und Helfersyndrom auf der anderen Seite. Viele neigen dabei zu selbstaufzehrendem Mitleid, statt zum reiferen Mitgefühl. Mitleid, nach dem Motto „geteiltes Leid ist halbes Leid“, unterwirft sich dem Leid. Mitgefühl hat keine Angst vor dem Leid und lässt sich davon nicht überrollen sondern tritt ihm mit eigener Kraft entgegen, ohne Verantwortung zu leugnen. Wenn wir aber dem Leid aus der Distanz entgegentreten und uns einreden, dass wir eh nichts ändern können, sind wir schon in der Abwehr des Leids. Dies geschieht häufig, wenn in den Medien vom Elend in den ärmeren Ländern berichtet wird.

„Wie rechtfertigen Sie Ihren Lebensstil, angesichts der leidvollen Zustände auf dem Planeten?“ Diese Frage, die Ilija Trojanow nach dem Vortrag aus dem Publikum gestellt wurde, und darauf anspielt, dass der Autor häufiger arbeitsbedingte Flugreisen unternimmt, hängt eng mit einem unsicheren Umgang mit Ungerechtigkeit und Leid zusammen. Die Antwort lautete schlicht: Trojanow halte den in der Frage impliziten Vorschlag „auszusteigen“ für sich nicht umsetzbar. Dies sei keine für alle Menschen mögliche Lösung, außerdem könne man nie vollkommen aussteigen, weil man aus seiner Haut nun einmal nicht rauskomme. „Mein Ansatz ist es, Sachen bewusst zu machen, ein Bewusstsein für den westlichen imperialen Blick zu schaffen und Möglichkeiten wirklich nachhaltiger Hilfe aufzuzeigen.“

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