Der Zufall in der Neuen Musik - Vortrag vom 14. Juni 2016 im OMZ


Wien, 14. Juni 2016
PRO SCIENTIA
Referent: Philip Unterreiner


Zufall in der Neuen Musik

Der Zufall ist ein Phänomen, das in ganz unterschiedlichen Disziplinen eine Rolle spielt, allen voran der Mathematik und der Theologie. Einsteins Aussage „Gott würfelt nicht“ kennzeichnet die Schnittstelle beider Bereiche. In der Musik spielt der Zufall dort eine Rolle, wo Musik (wieder) mathematisch wird, nämlich nach dem Barock wieder in der Neuen Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Folgende Fragen sollen Gegenstand der Erörterung werden:

·       Wie kann man Zufall komponieren und ist das nicht widersprüchlich?
·       Was bedeutet eigentlich Zufall und gibt es einen objektiven Zufall?
·       Wie unterscheidet sich „Zufallsmusik“ von gesetzmäßig komponierter Musik?


1.     Einführung: Zwei Stücke von John Cage
Das Stück „Roarotorio“ von John Cage stammt aus dem Jahr 1979, wobei für dessen Kompositionsverfahren Zufallstechniken verwendet wurden. Der erste Höreindruck mag sehr verstörend wirken und Roaratorio einigen Hörern wohl kaum als echte Komposition erscheinen, vielmehr als ein Durcheinander, eine akustische Reizüberflutung, ein Chaos. So lautet denn auch der Untertitel des Stücks „Ein irischer Zirkus über Finnegans Wake“
Wir hörten eine Stimme, die sehr klangvoll einen Text vorträgt, dazu erklingt ein Durcheinander verschiedener Umweltgeräusche: Windesrauschen, ferner Donner, aufgeregte Vögel und die Musik einer irischen Folkband.
Der Text, der von John Cage geschrieben wurde und vom Autor selbst vorgetragen wird, trägt den Titel [1]„Writing the second time through Finnegans Wake“. Cage hat mit kombinatorischen Schreibtechniken das gleichnamige Werk von James Joyce bearbeitet, sodass quasi ein Gedicht entsteht. Es ergibt sich zudem das wiederkehrende Mesostichon „James Joyce“, das sich über 40 Seiten hinzieht. Daneben ließ Cage ungefähr 5000 akustische Phänomene aufnehmen, die im Text erwähnt werden; die irische Hintergrundmusik soll wohl allegorisch die irische Kultur stehen, auf deren Grundlage das Werk entstanden ist. Aus den Aufnahmen wurden dann 2293 Samples ausgewählt, kategorisiert und durch Zufallsoperationen um Cages Lesung herum verteilt.

Die meisten verbinden mit dem Namen John Cage wahrscheinlich sein berühmtes Stück 4‘33‘‘. Das Stück ist für Klavier und wurde 1952 in Woodstock uraufgeführt. Es hat drei Sätze: Tacet, Tacet und Tacet. Lange Rede, kurzer Sinn: Das Klavier schweigt vier Minuten und 33 Sekunden. Allerdings wäre es nicht richtig, zu behaupten, dass nichts erklingt. Was man hören kann sind die Geräusche, die das Publikum von sich gibt – Räuspern, Atmen, unruhig auf dem Sessel rutschen - und die Geräusche, die vielleicht von draußen hereindringen – Autos, Hupen, spielende Kinder.

Vordergründig scheint also kein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem ersten Stück „Roaratorio“, bei dem alles wild durcheinander klingt und „4‘33‘‘“, wo das Klavier schweigt. Der Zusammenhang besteht nun aber in dieser absichtslosen Folge von zufällig gemischten Umgebungsgeräuschen. Denn beide Stücke thematisieren ja den Umgebungsklang, live oder aufgezeichnet.
Cage sagte Jahrzehnte später über 4‘33‘‘
„Ich glaube, mein bestes Stück, zumindest das, was ich am liebsten mag, ist das stille Stück. Es hat drei Sätze, und in keinem dieser Sätze gibt es einen Ton. Ich wollte mein Werk von meinen Neigungen und Abneigungen befreien, da ich der Ansicht bin, daß Musik nicht von den Gefühlen und Gedanken des Komponisten abhängen darf. Ich habe geglaubt und gehofft, anderen Leuten das Gefühl vermittelt zu haben, daß die Geräusche ihrer Umwelt eine Musik erzeugen, die weitaus interessanter ist als die Musik, die man im Konzertsaal hört.“
Cage hat damit versucht, ein Kunstwerk ohne Neigungen und Abneigungen des Komponisten zu schaffen. Damit knüpft er an das Interesseloses Wohlgefallen an, das nach Kant das Ziel jeder hohen Kunst sein sollte: Die völlige Zweckfreiheit von Kunst. Dass ihm dieses Stück, das ohne Gefühle geschrieben worden ist, jedoch am besten „gefällt“ ist sehr interessant. Dass ihm Geräusche besser gefallen als Musik des Konzertsaals ist befremdlich. Man fragt sich, was Cage unter Musik versteht und welchen Begriff von Kunst er hat.
Cage ist ein Komponist der Avantgarde, die in der Nachfolge der Moderne steht. Nach der Zweiten Wiener Schule und der Zwölftonmusik entstanden die Serielle Musik und die Aleatorik. Die Bezeichnung ist von lateinisch alea = der Würfel abgeleitet und ist eine Kompositionstechnik, die den Zufall mit in den Kompositionsprozess aufnimmt. Wie wir bei Cage gesehen haben, ist das Ziel die nicht-intentionale Werkgenese.
Man will ein unvorhersehbares Ereignis herstellen bzw. eine unkalkulierbare Situation mit berechnender Absicht schaffen. Dieses Paradox unterscheidet den ästhetischen Zufall von anderen Zufällen: wie dem Zufall der Evolution, der Geschichte etc. Diese ergeben sich, jener ist gewollt. Die Künste brauchen den Zufall. Dabei verschiebt sich sein Platz im Laufe der Geschichte. War in der Literatur des 18. Jahrhunderts der Zufall noch Objekt, so wurde er in der Moderne plötzlich zum Subjekt. Dichter zerschnitten ihre Texte in einzelne Wortschnipsel und bildeten aus den verdeckt gezogenen Wörtern neue Gedichte.






2.     Marcel Duchamp
Wohl kein Name steht programmatisch wie praktisch für die Nobilitierung des Zufalls als der Marcel Duchamps, Verteidiger der gefundenen Schönheiten und Propagandist einer fröhlichen Physik in der Nachfolge Nietzsches.
 Abb. 1 Das erste Readymade
Um was geht es hier? Die Scherzfrage der Putzfrau, „ist das Kunst oder kann das weg?“, berührt genau die entscheidende Stelle, die Irritation, die diese Kunst auslösen will.
Duchamp weigerte sich das profane Objekt physisch zu verändern, um zu zeigen, dass der kulturelle Wert einer Sache nicht mit der künstlerischen Transformation zusammenhängt. Wenn sich ein Kunst-Gegenstand von einem Alltagsgegenstand unterscheidet, verfällt man leicht auf den Gedanken, der sichtbare Unterschied sei für dessen größere Wertschätzung verantwortlich. Lässt man hingegen die äußere Form des Alltagsgegenstandes bestehen, wird die Frage nach den Mechanismen der Umwertung der Werte radikal gestellt. Laut Nietzsche besteht das Wesen der Kultur nicht in der Schaffung neuer Gegenstände, sondern in der Verteilung von Werten.
Das Ready made ist einfach ein zufällig vorgefundener Alltagsgegenstand, der vom Künstler in einen neuen Kontext gesetzt wird. Die traditionellen Ansprüche von Qualität, Schönheit, Ausdruck gelten plötzlich überhaupt nicht mehr. Was Kunst ist und was nicht, erscheint nun einer zufälligen Entscheidung des Künstlers unterworfen zu sein. (Nebenbei bemerkt hielt Duchamp seine Werke gar nicht für Kunst)
Abb. 2: Die Figur „konservierter Zufall“
Das Objekt mit dem Namen „konservierter Zufall“ ist entstanden, als Duchamp einen Faden aus einem Meter Höhe fallen lässt, um uns so eine „neue Figur der Längeneinheit“ vorzustellen. Dabei macht er sich nicht nur über den technisch-sozialen Normierungswahn lustig, sondern will die Menschen gezielt desorientieren. Duchamp will Situationen der Indetermination schaffen, um sie im Moment ihres Eintretens zu fixieren, was an sich schon eine unmögliche Situation ist. Denn wie lässt sich ein einmaliger, mit keinem anderen vergleichbarer Moment denken? Duchamp will die Möglichkeit verlieren, zwei gleichartige Dinge zu unterscheiden oder zu identifizieren.
Hier lässt sich eine Brücke zur Physik schlagen. In der Quantenmechanik können beispielsweise Teilchen an zwei Orten zugleich auftreten. Hier wird der Kern jener Irritation formuliert, die alles Denken in einfachen Identitäten und strikten Ableitungen verstört. Die Künste, die den Zufall nutzen stoßen uns immer wieder darauf. Die Wahrnehmung wird somit zur Suche nach einer Referenz getrieben, einem festen Halt, den es zufälligerweise einmal nicht gibt. Und woher kommt die Gewissheit, dass ein Ereignis einmalig ist, wenn nicht aus dem Vergleich, in dem es festgehalten und verdoppelt werden muss.

Es erscheint nun lohnenswert einen Blick in die Mathematik und Philosophie zu werfen, um zu sehen, wie andere Disziplinen den Zufall sehen und wie sich der ästhetische Zufall davon unterscheidet.



3.     Naturwissenschaften
Die Gesetze der klassischen Physik sind rein deterministisch, denken wir beispielsweise an Newton. Hier hat Zufall keinen Platz. Wenn der Zufall dennoch einbricht, bewirkt er oft ein chaotisches Verhalten eines Systems.
Daher gilt: Lässt sich ein individuelles Ereignis nicht aus seiner Vorgeschichte ableiten, so nennt man dieses Ereignis zufällig. Das passiert, wenn die Ausgangsbedingungen nicht vollständig bekannt sind.
Bei vielen gutartigen Systemen hängt das Ergebnis nicht sehr empfindlich von den Details der Ausgangsbedingungen ab. ZB. Wenn ich die Geschwindigkeit eines Balls messen will, den ich aus dem Fenster fallen lasse, ist genaue Position meiner Hand unwesentlich.
Chaotische Systeme haben jedoch eine sehr empfindliche Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen. Das Würfelspiel ist in diesem Sinne chaotisch, weil man die exakte Handhaltung des Spielers nicht genau kennen kann und die Beschaffenheit des Materials etc.

Zufall lässt sich auch als Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines Ereignisses darstellen. Beim Würfelspiel wird jeder Zahlenwurf als gleich wahrscheinlich angenommen. Davon ausgehend können nun Wahrscheinlichkeiten für Wurfsequenzen errechnet werden. Gleiches gilt auch für den radioaktiven Zerfall.

In der Kunst besonders interessant ist ja die Herstellung von Zufall.
Man zum Beispiel sehr einfach Chaos herstellen, indem man eine Folge rekursiver Funktionen verwendet, also Funktionen, bei denen das Ergebnis das Argument der nächsten Funktion wird, also eine Folge von f von f von x…


Schwierig gestaltet sich jedoch die Herstellung von Zufallszahlen.

„Zufallszahlen werden unter anderem bei verschiedenen Methoden der Statistik benötigt, z. B. bei der Auswahl einer Stichprobe aus einer Grundgesamtheit, bei der Verteilung von Versuchstieren auf verschiedene Versuchsgruppen. Typische weitere Anwendungsgebiete sind Computer- und Glücksspiele und diverse Kryptographieverfahren.“

„Man unterscheidet grundsätzlich zwischen nicht-deterministischen und deterministischen Zufallszahlengeneratoren. Nicht-deterministisch ist ein Zufallszahlengenerator dann, wenn er auch bei gleichen Ausgangsbedingungen unterschiedliche Werte liefert. Da die Implementierung einer Software-Prozedur immer deterministisch arbeitet, muss zur Realisierung eines nicht-deterministischen Zufallszahlengenerators ein externer, beispielsweise ein physikalischer, Vorgang einbezogen werden.“

Sehr einfache nicht deterministische Zufallsgeneratoren sind zum Beispiel das Los-Ziehen oder einfach Würfeln.

Bei deterministischen Verfahren geht man wieder rekursiv vor: das Ergebnis einer Rechnung wird als zufällig interpretiert und direkt als neue Eingabe für eine neue Rechnung verwendet. Beim Mid-square Verfahren wird so eine fünfstellige Zahl quadriert. Aus der neu entstandenen zehnstelligen Zahl werden die mittleren fünf Ziffern herausgenommen und das Verfahren beginnt von vorn. Es entstehen sogenannte Quasizufallszahlen oder Pseudozufallszahlen. Diese können bei ausreichender Dokumentation reproduziert werden.
Der Nachteil an der Sache ist die häufig auftretende Periodenbildung. Oder das Abstürzen auf die Zahl Null.


62 x 62 = 3844
84 x 84 = 7056
5 x 5 = 0025
2 x 2 = 0004
0 x 0 = 0000

Natürlich kann eine zufällige Zahl auch aus fünf gleichen Ziffern bestehen, aber mit einer solchen Zahl kann niemand etwas anfangen.

Übrigens zählen Auszählreime von Kindern auch zu deterministischen Zufallsgeneratoren.



Affirmation und der Zufall in der Philosophie
Wir können jetzt noch einen Blick auf die Philosophie werfen.[2]
Gilles Deleuze fordert in seinem Werk immer wieder, den Zufall zu Bejahen. Diese ethische Maxime meint aber nicht das Verhältnis zum Zufall, das der Lotto- und Würfelspieler hat, indem er den Zufall kalkuliert. Der Zufall ist ihm ja nur Mittel zum Zweck.
Diese Affirmation stammt aus der Philosophie Nietzsches. Die Frage lautet hier nicht, ob ein Ereignis stattfindet oder wie es stattfindet, sondern nur wie man es stattfinden lässt. Es meint nicht, dass das Ereignis bejaht wird, sondern, dass der Bejahende selbst zum Ereignis wird. Zum „Schauspieler seiner eigenen Ereignisse, gegen Verwirklichung.“
Dem Zufall affirmativ zu begegnen heißt, seine Notwendigkeit zu bejahen, diese wiederum äußert sich im Vielen, im Differenten, so daß der Zufall nicht nur selbst notwendig ist, er ist auch notwendig vielfältig und wird damit zum Terrain des Spielers: "Den Zufall bejahen können, heißt spielen können".
Zarathustra zeigt, wie das vonstatten geht, und Zarathustras Esel, wie es nicht funktioniert. Dessen I-A, dessen JA ist ein unfreiwilliges, ein ungewolltes, denn der Esel ist überhaupt nicht in der Lage, jemals etwas anders als I-A zu sagen und das vollkommen unabhängig vom Gegenstand.
Affirmation heißt aber auch, Nein zum Nein sagen zu können.

Zwar mag der Esel bei Nietzsche Christus bezeichnen [14], bzw. das, was durch die Paulinische Reform von diesem in jedem Christen übrig blieb, das eigentliche Sinnbild aber stellt die mythologische Figur des Sisyphos dar und kehrt als Absurdes, als absolut Verneinendes und damit als falsch Bejahendes bis heute immer wieder. Das Bild des Sisyphos signifiziert damit nicht nur die falsche Bejahung, sondern auch die falsche ewige Wiederkehr des Gleichen. Für Nietzsche dagegen, und darauf beharrt Deleuze immer wieder, waren die Bejahung und das Tragen, Ertragen, Belasten stets inkommensurable Größen, Denken und "ernst nehmen", "schwer nehmen" waren für ihn nie miteinander vereinbar [15]. Statt dessen ist von einer "Konversion des Schweren in Leichtes, des Niedrigen in Hohes, des Leides in Lust" die Rede [16], davon, daß Bejahen gerade nicht tragen, sondern ganz im Gegenteil entlasten, erleichtern heißt. Die "ontologische Bejahung", von der Deleuze einmal sprach[17], beinhaltete konsequenterweise eine Bejahung des Lebens in seiner Vielfalt und die Bejahung des Vielen in seiner Lebendigkeit, eines "Zuviel an Leben". So paradox es anfangs klingen mag, aber der Philosoph, der mit dem Hammer philosophiert, der Umwerter aller Werte, plädiert - wohl nur mit Diogenes, dem Ummünzer, zusammen - für etwas, das wie eine Ethik ausschaut, mithin - unausgesprochen - die Logik des Sinns auf den Höhepunkt treibt: "Eine Logik der Bejahung des Vielen, folglich eine Logik der reinen Bejahung, sowie eine Ethik der Freude" [18]. Sie äußert sich, entsprechend der dreifachen Konversion als Tanz, Spiel und Lachen.


Für Nietzsche stellt sich so das Leben artistisch dar. Der Mensch ist ein Seiltänzer. Der Halt ist minimal, die Gewissheit gering und das Lebensgefühl die Schwebe.
Deleuze rät uns auch, uns von alten Gewohnheiten zu trennen und vielmehr einzusehen, dass Kausalitäten viel zu einfach sind, und es einen guten Grund nur als kontingenten gibt.


Damit bezieht er sich auf Spinoza, der vor dem Glauben an die Ordnung warnt:
„Und weil uns besonders angenehm ist, was wir uns leicht vorstellen können, ziehen die Menschen die Ordnung der Verwirrung vor, als ob die Ordnung, von der Beziehung auf unsere Vorstellung abgesehen, etwas in der Natur wäre.“
Deleuze kritisiert auch die falsche Vorstellung die wir vom Denken haben, nämlich, dass das Denken durch sich selbst denkt.
Man ging davon aus, sagt Deleuze, dass
1.     Denken ein Vermögen ist
2.     Irren, nur durch Störung von außerhalb möglich ist
3.     Allein die Zuflucht zu einer methodischen Ausrichtung Fehler ausschließt
Dieses Denken, das sich den Verstand als eine Art Insel vorstellt, die autonom ist, vertritt auch Kant in seiner transzendentalen Philosophie.
Was Deleuze meint, lässt sich mit Lacan so ausdrücken:
„Die Geschichte eines Dings besteht ganz allgemein in der Aufeinanderfolge der
Kräfte, die sich seiner bemächtigen…“
Er geht davon aus, dass etwas nicht aus sich selbst etwas ist, sondern durch verschiedene Einflüsse von außen zu etwas gemacht wird. Der Zufall ist so eine Kraft, die von außen kommt und eine produktive Rolle einnehmen kann.


Kompositorische Umsetzung: Cage und Boulez

John Cage scheint Deleuze sehr gut verstanden zu haben, zumindest wirkt seine Musik wie die künstlerische Umsetzung dieser Gedanken. Cage nimmt sich als Komponist zurück, er geht soweit, dass er selbst nur noch die Bedingungen schafft, sodass etwas geschehen kann.

Womit wir wieder bei der Aleatorik und der nicht intentionalen Werkgenese sind.
Man kann grob zwei Richtungen unterscheiden:
1.     Der erste Typus, die improvisatorisch-indeterminierte, automatische Werkgenese
greift den Topos auf, dass Kunstwerke vorallem aus einer Inspiration des Künstlers entstehen, also irrational. Diese Denkfigur wird im 20. Jahrhundert radikalisiert zu dem Versuch, Werke vollkommen unabsichtlich entstehen zu lassen, als ein dereglement de tous les sens (Rimbaud). So entstehen Collagen, action painting, und in der Musik der free Jazz.
Der Kernsatz könnte also lauten: Das Unbewusste produziert.

2.     Die kombinatorisch-determinierte, maschinelle Werkgenese
dagegen betont die Reflexion. Strenge Gesetze auf ein zugrundegelegtes Material angewandt, ergeben das Kunstwerk. Im 20. Jahrhundert wird diese Denkfigur ad absurdum getrieben, sodass Werke vollkommen anonym und ohne menschliche Beteiligung entstehen können. In der Literatur entstehen Würfel- und Zufallstexte, in der Malerei Computerbilder und in der Musik Arten von elektronisch-serieller Klangerzeugung.
Der Kernsatz könnte hier lauten: Das Material oder das Programm produziert.

Diese Denkrichtungen gab es schon früher. Beispielsweise im Barock. Die Gattungen Fantasie und Fuge entsprechen zwei gegensätzlichen ästhetischen und kompositionstechnischen Gattungen. Die eine repräsentiert die künstlerisch freie Form, das freie Fließen, Empfindung und Fantasie, die andere das Gesetz, die Ratio und Form.

Kann man Fantasie und Fuge als Gattung nach den ersten Tönen schon unterscheiden, so wird dies in der Moderne kaum noch möglich. Die einzelnen Gattungen unterscheiden sich hauptsächlich durch den Kompositions Prozess, wie sie komponiert worden sind.
Wer aleatorische Kunst analysieren will, sollte nun wissen, dass diese oft gleichgültig gegenüber dem verwendeten Material ist, dh. sie unterscheidet sich nicht grundlegend dadurch, ob Worte, Zeitungsausschnitte oder Klänge verarbeitet werden.
Außerdem wird eine bloße Produktanalyse oberflächlich bleiben, wenn nicht der Prozess der Werkentstehung miteinbezogen wird.



John Cage war keineswegs von Anfang an ein Komponist, der aleatorisch komponierte. Anfangs komponierte er recht traditionell, war dann Schüler von Arnold Schönberg und erweiterte seine Techniken bis hin zur Zwölftonmusik, in der alle zwölf Töne einer Oktav gleichberechtigt vorkommen dürfen bzw. müssen. Dann ging er aber darüber hinaus, führte Idee weiter und verwendete alle Klänge aus der Umwelt gleichberechtigt.
Hier wurde er stark von Marcel Duchamps und seinen Ready-mades beeinflusst, der Umweltgegenstände zu Kunstwerken erhob. Die Hintergrundgeräusche werden zu Cages Ready-made Musik.
Dreißig Jahre später wird diese Idee dann in einem Genre der Pop Musik kommerziell erfolgreich, das sich Ambient Music nennt. Der Komponist Brian Eno bezeichnet seine Musik so, weil sie einen Raum akustisch möblieren könne.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Einfluss auf Cage wurde vom Zen-Buddhismus ausgeübt. Cage hörte Vorträge des Japaners Daisetz Teitaro Suzuki.
Die Ideen die von Suzuki schienen perfekt mit der Kunst der Avantgarde zusammenzupassen.
Zentraler Punkt ist die Vorstellung, dass alles schon von jeher erleuchtet sei. Die meisten Menschen erkennen dies aber nicht, sondern suchen verzweifelt nach irgendetwas außerhalb ihrer selbst liegenden. So wird ein Schüler, der hinter allem einen verborgenen, komplizierten Hintergrund vermutet vom Meister unmittelbar auf die gegenwärtige Situation verwiesen. Auf möglichst banale und zufällige Ereignisse im Hier und Jetzt. Suzuki lehrte, dass es für die Erleuchtung wichtig ist, sich auf das zu beschränken, was wir gerade vor der Nase haben.
Cage beschreibt seine Ziele so:
„Was ich zu erreichen versuche, ist die Freude an jedem einzelnen Augenblick und nicht das Hervorheben eines speziellen Moments. Besondere Momente ergeben sich natürlich, aber ich versuche dafür offen zu sein, dass jeder Augenblick ein besonderer ist.“
Hier haben wir in der Bejahung des Augenblicks wieder den Bezug zur Affirmation bei Nietzsche und Deleuze.
Dieses Offenseinfüralles bedeutet aber keineswegs Tu, was du willst. Solch eine falsch verstandene Aleatorik sorgt erfahrungsgemäß nur dafür, dass die jeweils bevorzugten und sicher beherrschten Klischees ungehindert reproduziert werden können.
Was Cage will, ist der Versuch, etwas Unvorhersehbares und wirklich Neues entstehen zu lassen. Das beste Beispiel dafür ist sein stilles Stück 4‘33‘‘. Die unvorhersehbaren Umweltgeräusche erfordern hier also eine Art von Stille, die dadurch entsteht, dass jegliche Intentionen und eigene Vorlieben des Komponisten ruhen. Dadurch wird Raum geschaffen für Neues, für originelle Ergebnisse, die vielleicht sogar vollkommen entgegengesetzt zu den persönlichen Vorlieben des Komponisten sind.

Es gibt andere Komponisten, die das gleiche Ziel mit anderen Mitteln zu erreichen versucht haben.



Dazu gehört Pierre Boulez

“I wanted to eradicate from my vocabulary absolutely every trace of the conventional, whether it concerned figures and phrases, or development and form; I then wanted gradually, element after element, to win back the various stages of the compositional process, in such a manner that a perfectly new synthesis might arise, a synthesis that would not be corrupted from the very outset by foreign bodies—stylistic reminiscences in particular.” (Boulez 1986a, 61) ,

Dieses Zitat von Boulez klingt ganz ähnlich wie das eingangs gehörte Zitat von Cage, wo er sinngemäß sagt: Ich wollte ein Stück schreiben, das frei ist von meinen Vorlieben und meinen Intentionen.
Das Interessante ist jetzt, dass Pierre Boulez eine völlig andere Kompositionstechnik hat, die man als serielle Musik bezeichnen kann.
Serielle Musik steht in der Nachfolge der Zwölftonmusik von Schönberg.

Während jedoch bei deren Zwölftonmusik lediglich der Tonhöhenverlauf als Reihe festgelegt ist, werden bei der seriellen Musik auch die Parameter Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe (worunter – insbesondere bei Klaviermusik – auch Artikulation bzw. Spielart zählen) quantifiziert und in einer vorab festgelegten Proportion reihenmäßig erfasst.

Die Kompositionstechnik basiert auf dem Versuch, möglichst alle Eigenschaften der Musik, wie zum Beispiel Tondauer, Tonhöhe und Lautstärke, auf Zahlen- oder Proportionsreihen aufzubauen. Diese Idee einer musique pure entspringt dem Wunsch, eine Musik von möglichst großer Klarheit hervorzubringen, frei von Redundanz, Unbestimmtheit und der Beliebigkeit des persönlichen Geschmacks.




Das Klavierstück structures Ia ist ein Musterbeispiel serieller Musik.
Man kann sagen, Boulez versucht, so viel wie möglich festzulegen.
Es gibt:
-        Auswahl und Anordnung der Tonqualitäten
-        Auswahl und Anordnung der relativen Zeitdauern
-        Auswahl und Anordnung der relativen Intensitäten
Wahl der Klangfarbe, Auswahl und Anordnung der Anschlagsarten. Cage verwendet in diesem Stück zehn Anschlagsarten.

Boulez verhält sich extrem asketisch. er will eine aus den gewählten Elementen folgerichtig hervorgehende Struktur ganz sauber, quasi in sich wirken lassen. Für ein einfarbiges Gewebe ist daher das Klavier besonders gut geeignet.

Auf diesem Niveau der seriellen Technik kann der Kompositionsvorgang auf drei Arbeitsphasen zurückgeführt werden:
Entscheidung I – Automatik – Entscheidung II
In der ersten Entscheidung werden die Elemente ausgewählt und angeordnet. In der automatischen Phase werden diese Elemente quasi in eine Maschine geworfen, die sie dann zu Strukturen verwebt. In der zweiten Entscheidung wird dann Parameter, die die Maschine nicht bearbeitet hat, nachbearbeitet.

Man könnte jetzt einwenden, dass der Kompositionsprozess einer Dialektik zwischen Freiheit und Zwang entspricht. Dies ist insofern nicht richtig, als die Entscheidung nicht mit Freiheit zu verwechseln ist und die Automatik nicht mit Zwang. Eher trifft das Bild zu, dass man vor einer Reihe von Automaten steht und nun die Freiheit hat, in welchen man einwirft. Oder man baut sich seinen eigenen Kerker, um dann im Kerker beliebigen Tätigkeiten nachzugehen.



John Cage: Music of Changes
Das Stück von Cage ist nun in seiner Werkgenese das genaue Gegenteil von dem eben gehörten Stück von Pierre Boulez, denn Cage verwendet für die Komposition das Zufallsprinzip. Dieses als Aleatorik bekannte Verfahren kombiniert musikalische Parameter, die vorher in Tabellen festgelegt wurden durch zufällige Entscheidungen. Als Zufallsgenerator verwendete Cage das klassische Chinesische I Ging Orakel oder ganz simpel den Würfel.

Die rhythmische Struktur ist nach Cage die entscheidende Strukturierung des Stücks.
Hier wurde eine additive Struktur verwendet 3+5+63\4

Für die weitere aleatorische Anordnung von Elementen wurde das I Ging Orakel verwendet. Das I Ging ist mit einem Alter von 5000 Jahren der älteste der klassischen chinesischen Texte und besteht aus einer Abfolge von Hexagrammen, die bestimmten Weisheiten zugeordnet sind. Jeder Zufallszahl wird nun eines von den 64 Zeichen zugeordnet. Cage hat nun diesen Zeichen

Die Art und Weise, wie Cage nun das I Ging einsetzte, um die musikalischen Parameter auszuwählen, sah so aus, dass er ein Hexagramm (zufällig) bestimmte und dann aus einer bestimmten Tabelle (die Tabellen hatte er vorher zusammengestellt; s.u.) das Element auswählte, dessen Ordnungszahl (in Bezug auf ihre Reihenfolge innerhalb der Tabelle) der Ordnungszahl des ermittelten Hexagrammes (in Bezug auf dessen Reihenfolge im I Ging) entsprach.

Cage beschreibt den Kompositionsprozess von Music of Changes in einem Brief an Boulez folgendermaßen:
„Du mußt [sic!] dir vorstellen, daß [sic!] ich eine große Menge Zeit damit verbringe,
Münzen zu werfen,[...] und die Leere im Kopf, die das mit sich bringt, beginnt auch
meine restliche Zeit auszufüllen“.27 28
Er ging schließlich dazu über, selbst auf kürzesten Wegen (beispielsweise bei einer Fahrt mit d UBahn) Münzen zu werfen und auch andere Leute für ihn Münzen werfen zu lassen.
Er ermittelt also ein Hexagramm, ermittelt im „I Ging“, welche Nummer es hat, und wählt aus der jeweiligen Tabelle das Element mit derselben Nummer aus. Die Hexagramme ermittelte er, indem er drei Münzen warf um je eine Linie zu bestimmen: warf er drei Mal Kopf, so bekam er eine von einem Kreis/Kreuz unterbrochene Linie, zwei Mal Zahl und einmal Kopf ergab eine durchgehende Linie, zwei Mal Kopf und einmal Zahl ergab eine unterbrochene Linie, drei Mal Zahl eine durchgehende Linie mit Kreis. Um ein Hexagramm zufällig zu bestimmen musst er nun sechs Mal je drei Münzen werfen (um sechs Linien auf dem geschilderten Weg zu erhalten).
Cage hat bei seiner Komposition der “Music of Changes” mit Kompositionstabellen (engl. Charts) gearbeitet. Die Anregung dazu kam von Pierre Boulez: Im Zuge ihres Briefwechsels erfuhr Cage,

„daß [sic!] Boulez Diagramme, die dem magischen Quadrat
29 ähnelten als Teil seiner
vorkompositorischen Arbeit benutzte und darin Zahlen eingesetzt hatte, um die
Reihenbildung strenger zu gestalten.“
30

Cage begann nun, ausgehend von diesem Hilfsmittel von Boulez zu experimentieren, allerdings mit einem ganz anderen Ziel. Er veränderte Boulezʻ Idee, indem er nicht mehr Zahlen in die Tabellen eintrug, sondern musikalische Parameter - zunächst Klänge und Klanggruppen/-aggregate - und diese unregelmäßig. Die jeweilige Kompositionsmethode schließlich brachte Bewegungen auf diesen Tabellen ins Spiel, über die Cage sagte:

„Ich kam zu dem Schluss, daß [sic!] ich entsprechend den Bewegungen in diesen
Tabellen komponieren konnte, anstatt meinem eigenen Geschmack zu entsprechen.“
31


Während der Serialismus versucht in seiner Strenge ein Gerüst allen Parametern zu Grunde zu legen, wendet Cage ein Verfahren an, wo sich das Detail nicht in die Gesamtheit (den Zusammenhang) integriert. Das hängt damit zusammen, dass Cage von den Verfahren Boulezʻ inspiriert worden war, sie aber gänzlich anders einsetzte - Cage verwendet Verfahren, die nicht mehr Mittel zum Zweck sind (des Ausdrucks einer Idee), sondern der Zweck selber. Das aus ihnen resultierende musikalische Gebilde ist lediglich als das Ergebnis von Prozessen aufzufassen, welche selbst den Kern der Aussage bilden.


Wenn man nun beide Stücke anhört fällt eines auf: Die so unterschiedlich komponierten Stücke unterscheiden sich in ihrem klanglichen Resultat nur marginal!

Das Stück von Boulez, das nach streng seriellen Prinzipien komponiert worden ist, klingt fast genauso wie das Stück von Cage, das durch Würfeln und Tabellen entstanden ist.


Diese Ununterscheidbarkeit von Berechnung und Zufall lässt sich auch am Beispiel vom La Placeschen Dämon zeigen:
Angenommen wir kennten alle Gesetze, die die Welt bestimmten und den exakten Zustand der Welt. Dann könnte jemand, der über die nötigen Ressourcen verfügte, alle Zukunft vorausberechnen. Doch dies könnte einen Aufwand verlangen, der alle Ressourcen der Welt überschritte.
Eine solche Berechnung wäre für uns beschränkte Menschen von einer dem freien Willen unterworfenen, also als zufällig erscheinenden Zukunft nicht unterscheidbar.
Zufall ist demnach formal, in mathematischem Verständnis, von komplizierter Berechnung nicht unterscheidbar.










Weiterführende Literatur

John Cage, Empty Words. Writings ´73-´78, Middletown 1973.
Ders., Silence. Lectures and Writings, Middletown 1961.

Claus Grupen, Die Natur des Zufalls, in: Die Künste des Zufalls, Peter Gendolla, Thomas Kamphusmann (Hg.), Frankfurt 1999.

Wolfgang Coy, Berechenbares Chaos, in: ebd.
Friedrich Balke, Den Zufall denken. Das Problem der Aleatorik in der zeitgenössischen französischen Philosophie.in: ebd.
Martin Maurach, Alea et alii. Zufall und Ordnungsbildung in Hörstücken und Gehirnen, in: ebd.
Holger Schulze, Das Modell der nichtintentionalen Werkgenese. Über Werkgeneratoren zwischen Cage und Frontpage, in: : Die Künste des Zufalls, Peter Gendolla, Thomas Kamphusmann (Hg.), Frankfurt 1999.

Giörgy Ligeti, Entscheidung und Automatik in der Structure I a von Pierre Boulez, in: Giörgy Ligeti. Gesammelte Schriften, Monika Lichtenfeld (Hg.), Bd. I, Basel 2007.




[1] Die auditiven Materialien wurden auf Mehrspurbandmaschinen übereinander kopiert. Die Dichte der Abfolge der gelesenen Mesostichen entspricht proportional ihrer Verteilung auf die Bücher und Kapitel von Finnegans Wake, projiziert auf die von vornherein anvisierte Gesamtdauer des Werks von ca. einer Stunde. Dagegen wurden die zeitliche Anordnung, Dauer und Stereoposiotion der Geräusche und Musikstücke nach dem IGing Zufallsverfahren ermittelt.
[2] Jörg Seidel, der Gedanke der Affirmation, Nietzsche und Deleuze.

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