Musik in der Konfrontation des Anderen


               Theoretischer Hintergrund: Musik in der Konfrontation des Anderen

                 It’s not World Music, it‘s the world’s musics

Der Begriff Weltmusik ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Einerseits ein musiktheoretisches Konzept, andererseits ein Label der Tonträgerindustrie vermag er oft mehr zu verschleiern, als auf einen bestimmten Musikstil zu verweisen. Der Musikwissenschaftler Georg Capellen hat den Begriff wohl als erstes in Deutschland schon um 1905 geprägt.[1] Er verstand darunter einen neuen, „exotischen Musikstil“, der Orient und Okzident miteinander verschmelzen könne.[2] Dieser neue Musikstil sollte die Melodik und Rhythmik des Orients mit der westlichen Harmonik verbinden. Diese Gedanken sind heute längst Realität geworden. Arabische Melodien und Beats, die auf ein westliches Akkordschema treffen, finden sich in verschiedenen Stilen, sei es, auf populärer Ebene, in der arabischen Popmusik, sei es, auf vielfältige und recht unterschiedliche Weise in der Musik interkultureller Ensembles.[3] Die Musik unterschiedlicher Kulturen wurde verschmolzen und als musikalischer Synkretismus zu einem neuen Musikstil weiterentwickelt, den man nun oft Weltmusik nennt. Dabei sollte man den Begriff selbst auch kritisch hinterfragen: „It’s not World Music, it‘s the world’s musics.“[4] Wird Musik ausschließlich im Singular verwendet, verrät dies die ethnozentrische Sichtweise. Dass es einen übergeordneten Begriff Musik gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. So kennen die meisten traditionellen Gesellschaften der Welt keinen abstrakten Oberbegriff, der musikalische Tätigkeiten wie Singen, Spielen und Tanzen vereint. [5] Wer hingegen von Musiken der Welt spricht, beweist das interkulturell geschulte Verständnis.
Dass Musiksysteme anderer Kulturen in der europäischen Musikwissenschaft lange kaum wahrgenommen wurden, ist leider eine Tatsache. Wenn eine Beschäftigung damit stattfand, so geschah dies meistens in explizit eurozentrischer Sichtweise. Die eigenen Kategorien und Konzeptionen von Musik wurden fremden Kulturen einfach übergestülpt. So wurde beispielsweise der emphatische Werkbegriff einfach auf andere Musiken übertragen.[6] Die eigene Ästhetik wurde absolut gesetzt und ungewohnte Klänge nicht selten als Lärm und Geschrei diffamiert. [7] Was jedoch für das abendländische Ohr schief und schräg klingt, kann in anderen Kulturen, genau im Gegenteil, als schön verstanden werden. Ein Beispiel für eine solche ethnozentrische Hörweise ist eine Musikerin, eine Absoluthörerin, die mit einem arabischen maqam konfrontiert wurde. Sie fühlte, also ob ihre Ohren „physisch malträtiert“ würden.[8] Ein so konditioniertes Ohr reagiert auf die fremden Skalen zunächst mit Abwehr, im besten Fall aber mit Zurechthören. Im Fachjargon ließe sich das als Annäherung eines Outsiders, mit der damit verbundenen emischen Sichtweise an ein Insider System beschreiben.
Wie der orientalischen Musik meistens mit Unwissen begegnet wurde, beschreibt der französische Musikwissenschaftler Alain Danielou aus der Sicht des Internationalen Musikrats:
Die große Musik des Orients wurde im Westen bisher allzu oft nur als Folklore betrachtet, als eine Sammlung merkwürdiger archaisch-primitiver Überbleibsel, die sich ausschließlich bei musikalisch unterentwickelten Völkern findet.“[9] [10]


              Musik im interkulturellen Dialog
„Wir müssen die Globalisierung als politische Herausforderung verstehen und politisch handeln.“[11] Wo der Politiker für die Probleme der Zeit eine politische Lösung fordert, sollte der Kulturwissenschaftler eine Erklärung bereithalten, die vom Verständnis des Miteinanders der Kulturen zeugt. Im 21. Jahrhundert, in dem durch Flüchtlingsströme und Migration die Globalisierung immer deutlicher das Leben der Menschen bestimmt, ist die Begegnung mit dem Fremden, dem Anderen ein großes Thema. Eine echte Begegnung zwischen Menschen kann nur im Dialog auf Augenhöhe stattfinden. Voraussetzung für einen gelingenden Dialog ist das Verständnis des Anderen, das das Verstehen der eigenen Position mit einschließt. Max Peter Baumann schreibt dazu:
„In der Begegnung der Kulturen, im Gefolge von Migration, Segregation , Integration […] ist das Dialogische längst schon ein integratives Moment des gegenseitigen Verstehens und Verstehen- Wollens geworden, das – trotz Ökonomisierung […], die interkulturelle Idee eines besseren Lebens grenzüberschreitend am Leben hält.“[12]
Der große Ethnomusikologe eröffnet in seiner Sicht der Dinge eine Reihe von Gegensatzpaaren. Zunächst sieht er den Dialog der Kulturen schon im Gange. Dieser wird getragen von dem Wunsch, den Anderen verstehen zu wollen und, das ist steckt hinter der ganzen Bemühung: Durch Verständnis, Miteinander und Überschreitung ein besseres Leben zu gewinnen! Demgegenüber stehen die Hindernisse: Staatengrenzen und Ökonomisierung als die Feinde des Dialogs.
Um in einen Dialog treten zu können, muss der Andere gehört werden:
„Im interkulturellen Dialog ist nicht in erster Linie das Faktenwissen gefragt als vielmehr eine Bereitschaft zur Entwicklung des eigenen Bewusstseins – weg von einem ego- und ethnozentrischen Denken über die engen Grenzen des Nationalen hinaus zu einer planetarischen Aufmerksamkeitskoalition hin.“[13]
So ist im Dialog Hören mit der Veränderung des Bewusstseins gekoppelt. Nur wer von sich weg auf den Anderen eingehen kann, ist fähig, in einen gleichberechtigten Dialog zu treten.
Lange Zeit war ein Dialog der Kulturen auf Augenhöhe nicht gegeben, da Europäer von ihrer eigenen kulturellen Überlegenheit ausgingen.
Wie kann nun ein musikalischer Dialog konkret aussehen? Ein Beispiel ist das grenzüberschreitende Repertoire vieler Ensembles. Ihre Musik wird oft als Weltmusik bezeichnet. Einige Begriffe sind hier besonders sinnvoll, um Prozesse der musikalischen Begegnung zu beschreiben.
So ist es zunächst die gängige Auffassung, dass jeder Mensch seine eigene Musik besitzt, in der er ein insider ist, dass er nur eine musikalische Muttersprache besitzt, die er als Kind gelernt hat und deren Prägungen nun irreversibel sind. Vielmehr können die meisten Menschen mehrere musikalische Stile als ihre eigenen bezeichnen. Dies hat der Ethnomusikologe Mantle Hood als Konzept der Bimusikalität (1960) theoretisch entwickelt. Dies wurde auch in späteren Untersuchungen zur Kompartmentalisation weiter ausgebaut.[14] Kompartmentalisation meint die gleichberechtigte Verbindung zweier Musikstile, die aber nebeneinander bestehen können, ohne sich zu vermischen.


             Musik und Akkulturation
Im Zusammenhang mit Migration und dem damit zusammenhängenden Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen ergibt sich die Problematik des Kulturwechsels. Vor allem für die zweite Generation von Einwanderern stellt sich häufig die Frage: Bin ich Türke/Araber/etc. oder Deutscher? Ein Problem ergibt sich jedoch erst dann tatsächlich, wenn man die Zugehörigkeit zur Herkunftskultur oder zur Gastkultur als sich gegenseitig ausschließende Möglichkeiten sieht, sich eine kulturelle Identität zu erwerben.[15] Beispielsweise zählt die National-Identität Deutsch-Türke immer noch nicht als zufriedenstellende Antwort auf die Identitäsfrage. So schreibt Navid Kermani, dass es für die Migranten der zweiten und dritten Generation zunehmend schwierig wird, eine hybride Identität zu leben und sie sich stattdessen immer öfter entscheiden müssen Pro-westlich oder islamisch zu sein. Beide Entscheidungen fordern ein klares Profil, weshalb vorallem diejenigen auffallen, die sich, obwohl die Eltern nicht religiös sind, einem radikalen Islam zuwenden.
Neben dieser persönlichen Ebene des individuellen Umgangs mit Heterogenität gibt es auch die institutionalisierte Suche nach Konzepten, die sozio-kulturelle Heterogenität integrativ zu bewältigen.
Als Akkulturation wird der „längerfristige Anpassungsprozess eines Individuums verstanden, der durch den Kontakt mit einer zweiten Kultur notwendig wird.“[16]Das Konzept muss daher als Prozess verstanden werden, der geschieht, wenn in einer interkulturellen Situation ein Austausch zwischen den Vertretern der jeweiligen Kulturen stattfindet. Die Dynamik ergibt sich durch die selektive Übernahme von Wertsystemen. Es werden also bestimmte Teilaspekte einer fremden Kultur für sich selbst anverwandelt und nutzbar gemacht. Dabei ist es falsch anzunehmen, dass der Prozess der Akkulturation linear gedacht werden muss und dass am Ende des Prozesses die Assimilation steht.
Überhaupt sollten Migration und Akkulturation auch als Entwicklungschance wahrgenommen werden.[17] So resultiert individuelle Kreativität und künstlerisch-intellektuelles Weiterkommen nicht selten aus der Spannung, die sich zwischen mehreren Kulturen ergibt. Der kreative Prozess ergibt sich schließlich stets aus einer Position des Dazwischen, der Nicht-Zuortbarkeit, des Indefiniten.





              Transkulturalität
Als kulturelle Wesen sind wir heutzutage weit davon entfernt nur einer einzigen, homogenen Kultur anzugehören. Was dagegen zunimmt, ist die Verflechtung.
Transkulturalität wurde als Begriff in den vergangenen Jahren von Wolfgang Welsch geprägt und zunehmend weiter verbreitet.[18] Es ging dabei um eine Weiterentwicklung alter Konzepte für Kultur, wie etwa dem Kugelmodell und soll neuere Konzepte, wie das der Multikulturalität weiterführen. So wurde Kultur früher meist unter dem Modell der Kugel betrachtet: Nach innen nimmt die Homogenität zu, nach außen findet eine Abgrenzung zu anderen Kulturen statt. Das Theorem clash of zivilisations schließt an dieses Kulturverständnis an. Diesem will nun Welsch das Konzept der Transkulturalität entgegenhalten, nach welchem Kulturen vor allem durch Verflechtungen charakterisiert sind. Er betont, dass „die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen“, und somit ein Geflecht ergeben.[19]
Es findet also eine Hybridisierung statt, sodass kulturelle Gemeinsamkeiten an vielen Orten der Welt gleichzeitig und nebeneinander auftreten. Als kulturelle Wesen sind wir heute alle Mischlinge. Als Beispiel muss man nur auf ein beliebiges Thema schauen, etwa die Medizin: Im Westen ist die asiatische Medizin auf dem Vormarsch, im Osten und der ganzen Welt zählt die westliche Medizin längst zum Standard, neben anderen, eigenen Konzepten. So auch in der Musik: Die gleiche Person kann ganz unterschiedliche Musiken als Teil der eigenen Identität empfinden. So kann ein Konzertgänger gleichermaßen Mozart und Mahler mögen, Cheb Khaled und Takemitsu hören.
Statt einer homogenen Identität, stellt sich die heutige normale Identität als patchwork dar.


            Hören und Verstehen
Das Ohr hört nicht allein und der Verstand ist ohne Sinne eine leere Hülse.
Hören und Verstehen sind zwei Komponenten derselben Sache.[20] Das Ohr und andere Sinne liefern nur Informationen, die dann eingeordnet und interpretiert werden müssen, um wirksam zu werden. So zeigt eine Geschichte des Hörens, dass sich die Konzepte von Hören und Verstehen immer verändert haben. Ein Beispiel wären hohe und tiefe Töne, wobei hier die räumliche Dimension ins Hören als Metapher mit hineinspielt.
Das interkulturelle Hören erfordert dabei weniger die Erfassung von Fakten, als die Bereitschaft zur Entwicklung des eigenen Bewusstseins. Weg vom ego- und ethnozentrischen Bewusstsein, hin zu einer globalen Aufmerksamkeit.
Da Verstehen im Normalfall ein rein geistiger Vorgang ist, kann man mit Recht bezweifeln, ob der „Verstehensbegriff“ auf Musik bezogen angemessen ist.[21] Verstehen bedeutet, auf klassische, westliche Musik bezogen, dass die formalen Gesetze des Musikwerks erkannt werden können, dass die Intentionen von Komponist und Musiker entschlüsselt werden können, dass das Musikwerk tatsächlich erst im Zuhörer entsteht und dass ein Musikwerk einem geschichtlichen Interpretationsgefüge ausgeliefert ist.
Max Peter Baumann schlägt in Anlehnung an Wolfgang Welsch nun ein transversales Hören vor.[22] Dieses Konzept propagiert ein Hören, welches Mehrfachkodierungen erkennt, enthierarchisiert ist und sich erkenntnistheoretisch nicht mehr einer exklusiven szientistischen oder ästhetischen Richtung unterordnet.




[1] Georg Capellen, Fortschrittliche Melodienlehre, Leipzig 1908. Ders., Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer neuen Kunstentwicklung, in: Die Musik 23, 1906/07.
[2] Ebd., zitiert nach: Max Peter Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, Nordhausen 2006, S. 16.
[3] Als ein Beispiel unter vielen sei hier die niederländisch-syrische Band No Blues genannt.
[4] Auf einem Plakat in Mickey Harts Studio; s. Keil, Charles und Steven Feld: Music Grooves. Chicago 1991; zitiert nach Max Peter Baumann, 2006, S. 31.
[5] Vgl., Max Peter Baumann, 2006, S. 7.
[6] Vgl., Ebd., S. 43.
[7] Vgl., Hector Berlioz, Gesammelte Schriften, 1864, in: Max Peter Baumann, 2006, S. 44.
[8] Max Peter Baumann, 2006, S. 46.
[9] Alain Danielou, The world of music 15, 1973 (3), S. 8, zitiert nach Max Peter Baumann, 2006, S. 67.
[10] Selbst bei Moritz Erich von Hornbostel finden sich noch Reste jener Hierarchisierung Vgl., Ernst Moritz von Hornbostel, 1986, S. 42ff.
[11] Johannes Rau, Globalisierung – Chance, nicht Schicksal. „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten im Museum für Kommunikation Berlin, 2002, zitiert nach: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/05/20020513_Rede.html, 1.9.2016.
[12] Max Peter Baumann, 2006, S. 32.
[13] Max Peter Baumann, Hören und Verstehen im interkulturellen Kontext, in: Beyond Borders. Welt – Musik – Pädagogik. Musikpädagogik und Ethnomusikologie im Diskurs, Barbara Alge, Oliver Krämer (Hrsg.), Augsburg 2013, S. 27.
[14] vgl. Alan P. und Barbara W. Merriam, Ethnomusicology of the Flathead Indians, Chicago 1967, siehe Max Peter Baumann, 2006, S, 50.
[15] vgl., Elena Makarova, Akkulturation und kulturelle Identität, Bern 2008, S. 34.
[16] ebd., S. 34.
[17] vgl., Haci-Halil Uslucan, Chancen von Migration und Akkulturation, in: Familie, Akkulturation und Erziehung, Urs Fuhrer, Haci-Halil Uslucan (Hg.), Stuttgart 2005, S. 228 ff.
[18] Wolfgang Welsch, Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Differenz, Lucyna Darowska, Claudia Machold (Hg.), Bielefeld 2010, S. 39 ff.
[19] ebd., S. 41.
[20] vgl. Max Peter Baumann, Hören und Verstehen im interkulturellen Kontext, in: Beyond Borders. Welt – Musik – Pädagogik. Musikpädagogik und Ethnomusikologie im Diskurs, Barbara Alge, Oliver Krämer (Hg.), Augsburg 2013, S. 27 ff.
[21] Reinhard Kopiez, S. 51,
[22] Max Peter Baumann, 2013, S. 30.

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